ROTTENACKER/ALTSHAUSEN (vf) – Seht kurzem liegt eine wichtige Neuerscheinung mit Bezug zu Rottenacker vor Eberhard Fritz, „Radikaler Pietismus in Württemberg – Religiöse Ideale im Konflikt mit gesellschaftlichen Realitäten“, 458 Seiten, „bibliotheca academica Verlag“, Epfendorf / Neckar.
Die Neuerscheinung enthält unter anderem die bislang umfangreichste Untersuchung der Geschichte (und der Nachgeschichte) der Rottenacker „Babelesbuben“, betrieben mit einem jahrelang angewandten, umwerfenden Fleiß, mit Kenntnis der historischen (auch der hierzulande weitgehend unbekannten amerikanischen) Quellen, mit einem riesigen Anmerkungsapparat, mit einem Ausblick aus württembergischen Dörfern hinaus in die Weltgeschichte. Eberhard Fritz untersucht seinen Gegenstand von den verschiedensten Seiten: die innere Struktur der religiösen Gruppen, die Führer und die Anhänger, die Literatur, die Predigten, Ueder und Gedichte, die besondere Rolle von Frauen, die Konfliktfelder um Kirche und Schule, die Ausgestaltung religiöser Riten, die äußere Erscheinung der Mitglieder, die „Ansätze zum Vegetarismus“ etc. etc. – Eine nochmalige Befassung mit dem Thema ist auf lange Zeit nicht zu erwarten; der Archivar der Herzogsfamilie von Württemberg (Altshausen) hat dafür zu umfassend gearbeitet. – Eberhard Fritz hat kürzlich in Rottenacker über seine Forschungen gesprochen, übrigens nicht zum ersten Mal (dabei entstand auch unser beigefügtes Foto).
Den Historiker E. Fritz begleitet sein Thema schon lange. Es ist nicht un-amüsant festzustellen, dass sich hier ein Mann, der von einem Herzog bezahlt wird, ausgiebig mit Leuten befasst, die vor den herzoglichen und königlichen Vorfahren jenes jetzigen Altshauser Herzogs nicht den Hut ziehen wollten. Es war vor allem das Interesse an der Kirchengeschichte des Herzogtums Württemberg, das Fritz zur Erforschung der kirchenkritischen Pietisten im Unterland und in Rottenacker führte.
Eberhard Fritz stellt jene kirchen- und auch gesellschaftskritischen religiösen schwäbischen Gruppen unter den verschiedensten Aspekten dar. In den Blick kommt so gut die geistige Vorgeschichte in der Theologie wie Separatisten als Erkennungszeichen diente. Es ist einer der wenigen auf uns überkommenen Gegenstände zur Bekundung des Gemeinschaftsgefühls einer ungeliebten, sogar verfolgten Gruppe Menschen. – Rechts: Beim Vortrag von Eberhard Fritz (dritter von links) in Rottenacker wurden auch drei weitere Gäste mit aufs Bild gebeten, die den Geschichtswissenschaftler unterstützten, von links Pfarrer Reusch, Frau Fritz und der frühere Rektor und Historiker Gunther Dohl
Fritz entwickelt ein buntes Bild religiöser Splittergruppen vor allem im 18. und 19. Jahrhundert, Menschen, die sich in der offiziellen lutherischen Amtskirche nicht wohl fühlten und die in einer Zeit, in der Religion und Staat sehr viel enger verknüpft waren (heute sehen wir das gern in islamischen Ländern), nicht nur mit pfarrherrlicher Rüge, sondern mit Landesverweis durch die staatliche Obrigkeit und jahrelanger Festungshaft rechnen mussten.
Die Pietisten in Württemberg hatten zwei Zentren, in Iptingen um die charismatische Führerpersönlichkeit Johann Georg Rapp, und in Rottenacker, wobei hier die Führungsgestalt der Barbara (Babette – schwäbisch: Babele) Gruber rasch an Bedeutung verlor und die Gemeinde der Frommen und Gerechten die wesentliche Rolle spielte.
Einen großen Teil des Buchs nimmt die Beschreibung der Versuche der Separatisten ein, als Glaubens einen eigenen Neuanfang außerhalb der verderbten und abweisenden Gesellschaft zu beginnen, zunächst und rasch scheiternd in dem Weiler Brandenburg südöstlich von Laupheim, dann in den Vereinigten Staaten und in Russland, aber auch im Ländle selbst (Korntal, Wilhelmsdorf).
Mit diesen „Konkretisierungsversuchen der Utopie“ darf der Autor weltgeschichtliches Niveau betreten (Welcher Autor täte einen solchen Schritt nicht gern!). Die Siedlungsgründungen der unterländischen und der Rottenacker Pietisten in den USA in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts funktionierten erstaunlich gut (aufgrund der hohen glaubensmäßigen Übereinstimmung der Gründungsmitglieder und aufgrund des Umstands, dass sie sich freiwillig und absichtlich zusammengefunden hatten). Die neuen Kommunen in den USA mit Gemeinbesitz funktionierten ausgezeichnet und dienten deshalb bedeutenden sozialistischen Autoren wie Friedrich Engels in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Argument dafür, dass Sozialismus möglich ist und nicht immer nur jener verdammte Kapitalismus der einzelnen Egoisten. Die religiöse Seite der Angelegenheit wurde freilich von den sozialistischen Eine Alltagsweisheit lautet: Es menschelet halt überall – auch bei den Ailerheiligsten der Heiligen aus Rottenacker und Iptingen. Eberhard Fritz zitiert einen Konflikt zwischen den beiden Wundergemeinden in den USA, jenen, die aus den Unterländer- und jenen, die aus den Rottenacker Ausgewanderten hervorging. Die Gemeinschaft in der Siedlung „Zoar“ (ex-Rottenacker) verzichtete aufgrund eines alttestamentlichen Gebots auf den Genuss von Schweinefleisch, erlaubte aber ehelichen Sex. Damit unterschied sie sich von den aus Iptingen stammenden Anhängern Rapps, bei denen Schweinezucht betrieben und das Fleisch ohne religiöse Bedenken verzehrt wurde, aber Heiraten nicht erwünscht waren. Als Separatisten der einen Provenienz 1859 die andere religiöse Sozialistensiedlung besuchten, servierten ihnen diese Schweinefleisch. Die Gäste wollten das Fleisch nicht essen, worauf die Gastgeber den Gästen wegen der bei ihnen erlaubten Verehelichung Vorwürfe machten. Unter Anspielung auf den bei den RappHten vorgeschriebenen Zölibat äußerte ein Gastgeber, bei anderem „Fleisch“ seien sie doch auch nicht so wählerisch. „Dies loste eine schwere Verstimmung zwischen Foto: Gemeindeverwaltung S.345).
Als erster Forscher hat Anfang der Neunziger Jahre der in Reutlingen-Betzingen wohnende Historiker und Schriftsteller Hellmuth Haasis auf die Rottenacker Separatisten aufmerksam gemacht. Bei seinen Archivarbeiten war er auf das „Freiheitslied“ des Rottenacker Separatisten Stephan Huber gestoßen und gab es plus Erläuterungen im Selbstverlag heraus. Hellmuth Haasis kommt aus der Studentenbewegung, verstand und versteht sich als Linker, ist ein Bewunderer der Französischen Revolution und ihrer deutschen jakobinischen Anhängerund war daher Feuer und Flamme, als er in verstaubten Akten des Landesgefängnisses Hohen-Asperg den Liedtext eines längst vergessenen Rottenacker frommen Schuhmachers mit seiner Franzosen- und Napoleon-Begeisterung entdeckte. – Der Archivar Eberhard Fritz kam aus einer ganz anderen „Ecke“ zu seinem Thema, aus der regionalen Kirchengeschichte.
Zusammenfassend: Wer die weltgeschichtliche Bedeutung einiger Rottenacker ausgiebig kennen lernen will (ihr Sammel-Name ist heute von einer Narrengruppe in Beschlag genommen), der kommt um die Lektüre von Eberhard Fritzens monumentalem Werk herum.Foto: Cover der Neuerscheinung: Portrait des Iptinger Separatisten Rapp und ein sternförmiges Gewebe, das den Separatisten als Erkennungszeichen diente. Es ist einer der wenigen auf uns überkommenen Gegenstände zur Bekundung des Gemeinschaftsgefühls einer ungeliebten, sogar verfolgten Gruppe Menschen. – Rechts: Beim Vortrag von Eberhard Fritz (dritter von links) in Rottenacker wurden auch drei weitere Gäste mit aufs Bild gebeten, die den Geschichtswissenschaftler unterstützten, von links Pfarrer Reusch, Frau Fritz und der frühere Rektor und Historiker Gunther Dohl. Foto: Gemeindeverwaltung