25.01.2002 | Ein Erbstetter kennt die Probleme in Argentinien

ARGENTINIEN / ERBSTETTEN. Sigmund Schänzle ist auf Heimaturlaub. Eine der Aufgaben Schänzles derzeit in Europa ist der Kontakt mit Hilfsorganisationen in Deutschland und der Schweiz. – Am Sonntag, 3. Februar (!), wird er im Pfarrsaal Erbstetten aus seiner Arbeit in Südamerika berichten. Diese Woche folgte er dem Wunsch der Ehinger SZ-Redaktion und beantwortete Fragen zur politischen, sozialen und kirchlichen Situation in Argentinien.

Bekanntlich ist das Land derzeit in einer mehr als schwierigen Situation. Vor Weihnachten berichteten auch die
Zeitungen bei uns ausgiebig von wirtschaftlichen Problemen, Forderungen des Weltwährungsfonds zur Finanz- und Wirtschaftspolitik des Landes, Zahlungsunfähigkeit der Regierung, Plünderungen von Läden etc. – Sigmund Schänzle, 41 Jahre alt, seit bald zehn Jahren in Argentinien, lebt mit den Menschen dort, insbesondere den Benachteiligten, mit. In seiner Diözese mit ihren 44 Geistlichen ist er die Hälfte der Woche für Seelsorge in einer riesigen Pfarrei (120 Kilometer Durchmesser) und in der anderen Hälfte für die Wirtschaftsverwaltung der Diözese zuständig, so hat er mehr als genug direkt mit den Problemen und Nöten vieler Menschen zu tun. In seinen politischen und ökonomischen Anschauungen stimmt er mit der katholischen Kirche des Landes überein. Die argentinischen Bischöfe äußern sich immer wieder auch zur politischen und wirtschaftlichen Situation. Die kleinen Leute seien der Meinung, dass ihren Anliegen am ehesten die katholischen Kirchenführer eine laute Stimme geben. Schänzle kann auf eine Verlautbarung der Bischöfe aus dem vergangenen Sommer hinweisen, in der die wirtschaftliche Situation klar angesprochen und
die Entwicklung, die dann vor Weihnachten kulminierte, vorhergesagt wurde.

Die beiden dominanten Parteien derzeit in Argentinien, die Peronisten und die „Radikalen”, sind vor allem Pfründen-Organisationen der jeweiligen Abgeordneten; ihr Einkommen liegt ein Vielfaches über dem der Durchschnittsbürger. Schänzle nimmt wie sein vorgesetzter Bischof in Santiago del Estero an, dass eine Änderung der Zustände jetzt teilweise auf außerparlamentarischem Weg erfolgen muss. Seitens der Bischöfe gibt es den Vorschlag, dass sich möglichst viele gesellschaftlich relevante Gruppen auf Einladung der Bischöfe an einen Tisch setzen, verhandeln und zu   Übereinstimmungen kommen. Schänzle wie sein Bischof nehmen an, dass, hilft auch dieser „Runde Tisch” nicht weiter, das gesamte Land in Anarchie und wahrscheinlich erneut in eine Militärdiktatur versinkt, eine Diktatur, die in Argentinien ja erst vor zwei Jahrzehnten das Land mit Mord und Folter überzog. – Schänzle nimmt von seiner Kritik auch den Weltwährungsfond nicht aus. Dessen Sparsamkeitsforderungen lasten schwer genug für das Land, seien aber bis vergangenen Sommer bis auf wenige Promille erfüllt worden; trotzdem habe der. WWF wegen „Nicht-Erfüllung”, die Schrauben angezogen und sei mitverantwortlich an der Entwicklung der letzten drei Monate.

Schänzle begrüßt die friedlichen Demonstrationen im vergangenen Spätherbst, an denen sich ein großer Teil der Bevölkerung ganz verschiedener Schichten beteiligt habe. Dass die Gewalt eskalierte, sieht Schänzle eher durch das Eingreifen politisch gelenkter Schlägertrupps bedingt: Die beiden großen Parteien hätten jeweils ihre paramilitärischen Einheiten, auch wenn das offiziell abgestritten werde. Als grundlegenden Mangel des politischen Systems bezeichnet Schänzle die allgemeine Korruption, als Mangel der Gesellschaft bezeichnet er die oft sehr geringe Eigeninitiative vieler Menschen: Diese passive Haltung sei von früheren Regierungen noch gefördert worden; Schänzle nennt hier insbesondere Evita Peron, die in den Fünfziger Jahren den Menschen versprochen habe: Wartet nur, es wird alles besser.

Schänzles Pfarrei hat einen Durchmesser von 120 Kilometern mit drei Hauptorten und 42 Filialen. Er schafft es, alle anderthalb Monate in jeder der Filialen vorbeizuschauen. Zumindest in den katholischen Gemeinden geht nichts ohne initiative Laien. Fast amüsiert zeigt sich Schänzle da bei einem Blick auf die Pfarrer-Versorgung bei uns: Die gilt ja als katastrophal schlecht, aber gemessen an Argentinien ist sie vorzüglich. Die Pfarrer leben von dem, was im Klingelbeutel
landet, von Mess-Stipendien (bezahlten Messen für Tote) und vom Staat bezahlte seelsorgliche Tätigkeit in Gefängnissen und anderen „sozialen” Einrichtungen. Eine große Freude jedes Jahr ist für S. Schänzle die Wallfahrt zum wundertätigen Kreuz von Mailin; das Dorf liegt in seinem Sprengel. 150.000 Menschen kommen jährlich zu den Wallfahrtstagen, vor allem auch viele Menschen aus dieser Region, die inzwischen auf Arbeitssuche in die großen Städte, vor allem Buenos Aires, abgewandert sind. Die Wallfahrtstage sind insofern auch Familientreffen. Das wundertätige Kreuz, so Schänzle, stammt sehr wahrscheinlich aus der Zeit der Jesuitenmission im 17./18. Jahrhundert. Diese Missionstätigkeit war in gewissem Sinn sehr modern, weil die Kultur der indianischen Einwohner von den Jesuiten bis zu einem gewissen Grad respektiert und gar gefördert wurde. Diese Missionstätigkeit wurde dann infolge des päpstlichen Verbots der Jesuiten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert für lange unterbrochen. Im Blick auf die vielen Wallfahrer hat Schänzle die organisierte Herstellung von Kreuzen angeregt, damit einige junge Leute etwas Arbeit und Verdienst haben.

Pfarrer Sigmund Schänzle im Ehinger SZ-Büro. Jüngeren Deutschen mag sein Stehkragen auffallen, in Deutschland ist dieser schon lange „außer Mode”. Aber in den meisten Ländern der Welt ist er für einen katholischen Geistlichen ganz selbstverständlich, sagt Schänzle, als wir ihn auf diese eigentümliche Kleidung ansprechen. Schänzle möchte sich auch ganz ausdrücklich durch seine Kleidung zu seinem Beruf bekennen. Foto: op