Die Abendbrise darf schon mal die Notenblätter vom Pult wehen
MUNDERKINGEN (vf) – Rosensträucher, gedämpfte Querflöten- und Cembalo-Musik, der Ausblick auf eine ruhig vorbeifließende Donau, amüsiert vorgetragene Geschichten aus dem .Pfarrhof“ direkt hinter den Sitzplätzen, Abendsonne. So schön kann Kultur sein. Die katholische Kirchengemeinde und die städtische Volkshochschule ließen dies am Sonntagabend erleben. Wenn dann noch ein leichter Windstoß die Musiknoten wegwirbelt und die Musiker einige Sekunden pausieren müssen, fliegt auch die unnötige Feierlichkeit vom Notenpult.
Offizieller Anlass für diese Veranstaltung: Das stattliche Pfarrhaus („Pfarrhof“) der katholischen Kirchengemeinde ist gerade dreihundert Jahre alt. Bekanntlich hatten die Prämonstratenser von Marchtal in Munderkingen das Pfarr-Recht, ließen Mönche hier die Seelsorge ausüben und für je drei (Pfarr-)Mönch das Gebäude zwischen Donau und Stadtpfarrkirche errichten. Die repräsentativen Fassaden und Räume ihres eigenen Stiftes fünf, sechs Kilometer westlich von Munderkingen zeigen und schauen nicht zur Donau, sondern zur „Landseite“ hin, die Fassade des Pfarrhofs in Munderkingen hingegen schaut zum F l u s s; die L a n d s c h a f t ist das Wichtige. Der jetzige Pfarrer von St. Dionysius und hauptsächliche Nutzer des Pfarrhofs, Ulrich Steck, hat bekanntlich schon vor seinem Einzug in das Haus mit der freiwilligen Hilfe von Munderkingern und Nicht-Munderkingern den lange Zeit vernachlässigten Pfarrgarten hergerichtet, so, wie er zu seinen besten

Foto: Dr. W. Nuber bei seinem Vortrag
Zeiten ausgesehen haben könnte. Und so entstand in der Stadt eine schöne, aber nicht pompöse „Ecke“, eigentlich ideal für eine solche „Soiree“ wie am Sonntag – und möglicherweise erst an diesem Abend so richtig dafür entdeckt. Schade, dass nur weitgehend ältere Menschen bereit sind, an dieser überkommenen „Zivilisation“ teilzuhaben und sie zu genießen
Wer wollte, konnte entdecken. Wer von uns Heutigen kennt schon Kompositionen des Marchtaler Mönchs und Reutlingendorfer Pfarrers Sixtus Bachmann (1754 – 1825)? Wolfgang Weller spielte an diesem Abend seine „Fantasie prima a-Moll“. – Ab und zu ist die Weltgeschichte im Recht, wenn sie Gericht ist und als solches einen Künstler und sein Werk vergessen lässt. Hier aber war die Geschichte nicht im Recht. Diese „Fantasia“ war ausgesprochen abwechslungsreich und unterhaltsam. Sie besteht aus lauter kurzen, verschiedenen Teilen, deren Unterschiede Wolfgang Weller klug herausarbeitete. Vielleicht wollte Bachmann sogar zeigen, wie verschieden man ein Tasteninstrument traktieren kann und was es zu seiner Zeit an Kompositionstechniken gab. Dem Verfasser dieser Zeilen wurde hier eine weitere Bildungslücke demonstriert. Diese noch besser zu schließen, ist freilich nicht so einfach. Eine Einspielung von Bachmann Kompositionen gibt es nicht zu kaufen, und ebenso nicht die Noten.
In dem Garten, in dem die Zuhörer an diesem Abend saßen, ging vor gut zweihundert Jahren Pater Isfried Kayser (1712 – 1771) spazieren, und im Pfarrhof daneben wohnte (und komponierte) er ein Jahrzehnt. Von ihm erklangen an diesem Abend zwei Sätze aus seiner „Parthia“, die sich nach Meinung des Verfassers dieser Zeilen in den Bahnen des damals üblichen Komponierens hielten, außerdem eine „Cantata sacra“ (eine Kantate aus kirchlichem Anlass), Titel: „Sursum corda“, die hohe Ansprüche an die weibliche Singstimme stellt und die hier viel Ähnlichkeit mit den virtuosen „Läufen“ einer damaligen Oper hat. Weil wenigstens der I n h a 11 religiös sein sollte, betonte der Komponist dies gleich im Titel. – Birgitta Aicher war früher Pastoralreferentin in Ehingen und ist immer wieder mal bereit, in unserem Raum Sänger-Aufgaben zu erfüllen; sie sang diese Kantate mit einer gut ausgebildeten Stimme sehr schön, stimmig und innig. Was religiöser Gesang sein wollte, wurde nicht zum Exerzierfeld stimmlicher Extravaganz. Begleitet wurde B. Aicher von Anke und Elisabeth Aicher, Violine, Johann Miehle, Viola, Ferdinand Gerstetter, Cello, Richard Fischer, Cembalo.

Foto: W. Weller am Cembalo
Drei Kompositionen von Veracini, Marais und Vinci wurden von Ulrike Pöhner, Querflöte-Lehrerin der städtischen Musikschule, und Wolfgang Weller vorgetragen. Weller nahm sich hier als Begleiter zurück und ließ die Flötistin dominieren. Dass Komponist Isfrid Kayser im P f a r r h 0 f lebte, hörten wir an diesem Abend aus dem Mund des früheren Realschul-Rektors Dr. Winfried Nuber. Sein Vortrag war ein (fast schon zu langes) Kabinettstück zum Beleg der Behauptung, dass Lokalgeschichte amüsant sein kann, wenn man sich um ihre Erforschung kümmert, und dass sie, wenn man will, genug Bezüge zur „großen“ Geschichte zu ziehen erlaubt. Man würde diese Geschichten gern im einzelnen nachlesen; hier alle auf einen Schlag wiederzugeben, übersteigt den üblichen Zeitungsbericht weit. Nur einige Tupfer. Da gab es beispielsweise den langen Streit um die Misthäufen zwischen den Ordensfrauen des nördlich anschließenden Anna-Klosters und dem Pfarrherrn. Da ereignet es sich aber auch, dass ein Fürst und General aus Hannover in einem der schrecklichen Erbfolgekriege des beginnenden 18. Jahrhunderts beim Überqueren der Donau ausgerechnet vor dem Pfarrhof von einer französischen Kugel getroffen wird. Die Leiche wird dann bis nach Norddeutschland transportiert – bei den damaligen Verkehrsverhältnissen sicher kein leichter Job, eine wochenlange Reise. – Oder: Der bayerische Churfürst kommt kriegshalber nach Munderkingen und ist einer der ersten prominenten Bewohner des gerade fertiggestellten Pfarrhofs. Der war wohl das mit Abstand repräsentativste Wohngebäude in der Stadt. Man hörte an diesem Abend auch Amüsantes und Interessantes von den Lebensgewohnheiten des Komponisten Kayser, der aus dem Druck und Vertrieb seiner Kompositionen – jedenfalls für damalige Verhältnisse – ganz nett was einnahm, das er dann behalten durfte. Seine Nahrungs-, Kleidungs- und Wohnbedürfnisse waren ja durch seine Tätigkeit und Bezahlung als Pfarrhelfer bereits befriedigt.
Wir hörten auch vom Ende der marchtalischen Zeit in diesem Haus: Das gesamte Inventar samt der großen Bibliothek wurde verschleudert. Die Vergantung war nicht nur ein böser obrigkeitlicher Akt der neuen Herren aus Regensburg (Thum und Taxis); nein, auch die Stadtverwaltung, so Nuber augenzwinkernd, beteiligte sich an der Verschleuderung und Umsetzung in Bares. – Das war dann das Ende der großen Zeit des Pfarrhofs. Danach wurde aus dem Zier- ein Gemüsegarten, dessen Erträgnisse der jeweilige Pfarrer dringend für die Aufbesserung seines Speisezettels benötigte.
Auch später noch wohnten einige gebildete Herren in dem Haus, so ein aufklärungsgesinnter Geistlicher, der ein Buch über die Geschichte des Papsttums verfasste, und beispielsweise Pfarrer Dr. Schmid, von dem sich „das Fräulein“ Müller-Gögler in ihrer Zeit als Munderkinger Volkschullehrerin 1920 Latein-Unterricht erteilen ließ. Der Herr Pfarrer befasste sich aber nicht nur mit lateinischen Vokabeln, sondern – in gemäßigter Form – auch mit dem angenehmen Anblick seiner erwachsenen Schülerin. Beide mussten darüber lachen. Und schon kam die Hauserin ins Zimmer und fragte, ob die Latein-Stunde schon zu Ende sei. Alles in allem: ein schöner Abend.

Foto: Birgitta Aicher singt eine Kantate von I. Kayser.
Fotos: vf