VOLKERSHEIM / EHINGEN (vf) – Bald hundertjährig lebt Carl Scheffold in einem der Hochhäuser am Ehinger Wenzelstein, betreut von seiner einiges jüngeren, ebenfalls aus der Pfarrei stammenden Ehefrau. – Vor einigen Jahren ließ sich der aus Kirchbierlingen stammende Lehrer Anton von Carl Scheffold über sein Leben bis zur ersten Auswanderung in die USA in den 20er Jahren und zur ersten Rückwanderung in den 30er Jahren erzählen. Aus diesem Text veröffentlichen wir einiges. Die Ehinger SZ hat selbst vor anderthalb Jahrzehnten schon einmal größer über das ungewöhnliche Leben Scheffolds, vor allem die Auswanderung in den 20er Jahren in die USA, berichtet.
Scheffold hat den weit größeren Teil seines Lebens in Nordamerika verbracht. Als über Achtzigjähriger kam er in die schwäbische Heimat zurück, um hier den weiteren Ruhestand zu verbringen. Seine Kinder und Enkel leben weiterhin in den USA.
Hören wir nun Carl Scheffold zu.
„Mein Vater Cyprian wurde als fünftes von acht Kindern meines Großvaters Gottfried und der Franziska geb. Stocker geboren. – Cyprians Vater hatte in Volkersheim ein kleines, leerstehendes Gehöft erworben. Er schlug sich mit einer kleinen Molkerei und einem Krämerladen durch. Auch mit der Landwirtschaft fing er an. Die erste Kuh kaufte er bei einem jüdischen Handelsmann auf Pump und gab als Anzahlungsrate das Kalb. – In der Molkerei stellte er Käse her. Seine Spezialität war Limburger Käse, in unserer Gegend auch als Backsteinkäse bekannt. Wir, die Enkelkinder, wurden mit dem Leiterwägele in die umliegenden Dörfer geschickt, um dort den Käse zu verkaufen. Man hatte uns eingeschärft, nicht eher heimzukommen, als bis alles verkauft war. Das sollten wir auch den Kunden sagen, um deren Mitleid zu wecken. Mein Vater lernte den Beruf des Schneiders, heiratete im Juni 1905 und kaufte in Kirchbierlingen ein kleines Haus für 5 000 Mark, wovon er 2 000 Mark anzahlen konnte. Den Rest galt es mühsam abzustottern.
Wir waren vier Kinder: ich war der älteste, 1906 geboren. Es folgten Martha, Gottfried und Franziska.
In meiner Jugendzeit war Schmalhans Küchenmeister. Deshalb schaffte sich mein Vater zwei Geißen, mehrere Hasen, zehn Hühner, sechs Bienenvölker an. Außerdem hatten wir Tauben, Kanarienvögel und sogar ein Eichhörnchen. Dieses lebte in einem senkrechten, fünf Meter hohen Drahtverschlag. – Nicht zu vergessen das Mastschwein, das im“ Winter geschlachtet wurde. Hinter dem Haus besaßen wir einen kleinen Obstgarten; vor dem Haus lag das Gemüsegärtchen und daneben stand der Brunnen. Vater arbeitete von 6 Uhr am Morgen bis meistens 8 Uhr am Abend, am Samstag oft auch die Nacht durch bis 3 oder 4 Uhr am Morgen, wenn ein Sonntagsanzug fertig sein musste. – Ein Anzug kostete damals (um 1910) 25 bis 30 Mark. Die meisten Kunden zahlten ein paar Mark an und stotterten dann monatlich 2-3 Mark ab.
Würste getragen, keine gekriegt
Im Sommer 1914, ich war 8 Jahre alt, fand in Kirchbierlingen ein Radfahrfest statt. Durch das Girlanden-geschmückte Dorf gab es einen Umzug. Ich durfte das Täfelchen des Radfahrvereins Reute tragen. Sechs oder acht rote Würste hingen an der Tafel, das war für mich Knirps ein ziemliches Gewicht. Aber eine Wurst bekam ich keine. Das werde ich nie vergessen und es ärgert mich noch heute! Eine rote Wurst war damals etwas Besonderes. Zum Trost erhielt ich nur einen „Waffelbruch“ und ein Fläschchen Limonade.
Der erste Weltkrieg
Zwei Monate nach diesem Ereignis begann der Erste Weltkrieg. Vater, damals 38 Jahre alt, musste sofort einrücken. Ich erinnere mich: Als ich am Sonntag, 2. August 1914, aus der Kirche heimkam und in die Schneiderbude trat, saß dort mein Vater auf der Holzkiste und weinte. Auf meine Frage, was los sei, sagte er: „Mein lieber Bub, ich muss morgen in den Krieg und muss euch Kinder und die Mutter verlassen.“
Als wir Kinder am nächsten Tag aufstanden, war Vater schon fort, ohne von uns Abschied zu nehmen. Ich glaube, es hätte ihm zu wehgetan.
Eines Tages im Herbst 1915 wurden etwa 30 russische Kriegsgefangene in Kirchbierlingen einquartiert. Sie marschierten mit einem Wachmann ins Dorf und sangen: „Kosavo, Kosavo, Kosiemei Jop.“ – Wir Buben liefen nebenher und sangen gleich mit, was den Russen Spaß machte. – Sie wurden dann an die Bauern verteilt, wo sie in Feld und Hof arbeiten mussten und auch bei der Anlegung eines Schienenwegs mit Loren am Kailberg. Das Essen war im Krieg immer knapp. Es gab kein Weißbrot mehr und keine Wecken; das Schwarzbrot war mit Kleie oder Kartoffeln gestreckt. Schwarzer. Brei, Linsen und Erbsen, Kartoffeln und Ziegenmilch waren in unserem Hause die Hauptnahrung. Grieben waren ein Hochgenuß. Mein Bruder und ich halfen bei den Bauern: Rüben und Kohlraben setzen, hacken und Disteln stechen. Steine lesen, bei der Heu- und Getreideernte helfen, Kartoffeln und Obst klauben, Vieh hüten… Der Lohn war lächerlich gering, aber die Hauptsache war für Mutter, dass wir beim Bauern essen konnten und noch etwas nach Hause brachten. – Gelegentlich holten wir im Wald junge Raben aus dem Nest und brachten sie der Mutter zum Braten. Sie schmeckten vorzüglich, wie junge Tauben. – Zum Fröschen gingen wir auch; das war damals nicht verboten. Es gab jede Menge davon, besonders am Wartbach. Als der erste Weltkrieg zu Ende ging, war ich zwölfeinhalb Jahre alt. Mein Vater kehrte unversehrt heim. Mutter, mein Bruder und ich haben ihn 1918 an einem Herbsttag abends um 22.30 Uhr in Ehingen vom Bahnhof abgeholt, zu Fuß.
Foto: Das Ehepaar Scheffold Mitte der 90er Jahre.
Auf dem Heimweg fragte ich Vater: „Wie viele Franzosen hast du erschossen?“ – Vater sagte: „Keinen. Gott sei Dank. Das sind ebenso Leute wie wir.“ Das gefiel mir durch Propaganda berieselten Burschen gar nicht. Ein solcher Vater, der nicht einen einzigen Franzosen erschossen hat!!
Ein halbes Jahr später kam ich aus der Schule und musste ungefragt -ich wollte Kaufmann werden – das Schneiderhandwerk erlernen. Mutter sagte: „Vater braucht dich. Wir haben nicht das Geld, einen Gesellen einzustellen. Du kannst aber auch zu den Bauern gehen, als Knecht, Mist laden und Kühe putzen.“ – Jetzt wusste ich es!! – Also wurde ich eben schweren Herzens ein Schneider.
Als ich meine Gesellenprüfung hinter mir hatte, hielt ich es zu Hause nicht mehr aus. Ich wollte raus; ich sagte zu den Eltern: Ich gehe auf die Walz – Man wollte sich jetzt nichts mehr sagen lassen, man war jetzt wer, man war ja alt genug und wußte alles besser als die Alten, und man wollte frei sein vom Elternhaus.
Die Mutter wollte mich nicht gehen lassen, aber mein Vater sagte: Lass ihn nur gehen; er soll erfahren, wie fremdes Brot schmeckt. – ‘ Wie das mit dem „fremden Brot“ ablief, davon erfahren wir in der nächsten Folge etwas.