23.06.2003 | Ein Landwirt Mitte siebzig erinnert sich genau

OBERDISCHINGEN (vf) – Seit kurzem liegt ein fast 350 Seiten starkes Buch in schönem Druck auf gutem Papier vor: Der Oberdischinger Mittsiebziger Josef Huber hat seine Lebenserinnerungen verfasst. Der Titel: „Was Großvater erlebte -1927 – 2002“. Das Copyright der Neuerscheinung liegt beim Autor, der aus der Nähe von Tuttlingen stammt, aber seit bald einem halben Jahrhundert in Oberdischingen lebt; er heiratete in den 50er Jahren in einen stattlichen Bauernhof hier ein und betrieb den Hof über Jahrzehnte hinweg mit seinen Angehörigen.

Huber führte über Jahrzehnte hin Tagebuch und notierte darin sowohl Privates, Berufliches wie auch Ereignisse aus der sogenannten Großen Politik. Aufgrund eines hervorragenden Gedächtnisses und dieser Tagebücher, unterstützt von bewundernswert hilfreichen Familienangehörigen und von dem in Oberdischingen lebenden Buchherstellungs-Fachmann Werner Kreitmeier, legte Huber in mehrjähriger Arbeit seine Erinnerungen nieder; die handschriftlichen Notizen wurden von Angehörigen in einen PC eingegeben. Sie betreffen ganz Alltägliches, aber auch „Leben und Tod“, besondere Erlebnisse wie Ausflüge und Ferienaufenthalte, Messen Besuche, Tätigkeit in verschiedenen Ehrenämtern (Gemeinderat, Kirchengemeinderat, Schöffe etc.) und mehr.

Huber bemüht sich durchgehend, die früheren Lebensverhältnisse, auch die früher auf Bauernhöfen und in Handwerksbetrieben verwendeten Geräte und Techniken dem Leser zu erläutern; ein kluger, älter Mann weiß, dass heute so vieles anders ist als früher; er erzählt mit viel Verständnis für Jüngere. Huber hält nur wenig für selbstverständlich von dem, was er erlebte: Er gibt immer wieder Erläuterungen. So wird sein Buch eine Fundgrube zur Landwirtschafts- und Technikgeschichte der letzten siebzig Jahre. Da gab es ja mehr als genug Wandel, von einer Form der Landwirtschaft, die noch in vielem der des beginnenden 19. Jahrhunderts ähnelte, bis zu der heutigen, die den Bauernhof maschinisiert, elektronisiert, in große Maßstäbe übersetzt.

Auch das beste Gedächtnis würde es nicht erlauben, so erstaunlich viele Details Jahrzehnte später genau wiederzugeben (einschließlich der Preise, etwa, was ein Bier in einer dörflichen Kneipe 1960 kostete). Aber Tagebuchnotizen, über Jahrzehnte hin säuberlich per Hand, zum Teil – wenn es sich um delikate Details handelte – in kaufmännischer Kurzschrift („Steno“) niedergelegt, ermöglichten es dem Verfasser, eine Chronik seines Kindheitsdorfes Geisingen, der Gemeinde Oberdischingen und der Umgebung zu liefern, die einen Leser, der viele der hier genannten Namen und Personen kannte oder sich als Zeitungsmacher an sie erinnert, nur staunen lässt. Das Register am Schluss des Buchs verzeichnet etwa achthundert Namen von Personen und Orten. Da taucht so gut die frühere Dorfchronistin (und Mitarbeiterin der Ehinger SZ) Toni Munding auf wie der frühere Ehinger Veterinär Dr. Genning. Da kriegen wir mit, dass der Verfasser (berufs- und parteibedingt) befreundet ist mit dem früheren Bauern-Repräsentanten Honor Funk und seiner Familie. Einige weitere Namen, eher willkürlich ausgewählt: Hans Balleisen, Heinrich Bareiss, Manfred Braig (Ehingen), Schwester Cäcilita, Walter Hiller (Herlighof), Franz Simon (Ehingen). Auch Karl-Heinz Ott, der aus Oberdischingen stammende Schriftsteller, wird im Register genannt, der örtliche Bauern-Repräsentant Hans Zink kommt gleich zehn Mal vor. – Weil Huber das Kleine und das Große ernst nimmt, erscheinen im Register die verschiedenartigsten Ortsnamen nacheinander: London, Lourdes, Lübeck, Lugano, Luppenhofen, Maastricht“. Diese alphabetische Reihung lässt die Breite und die Weite im Beobachten und Denken Hubers spürbar werden.

Mit der Neuerscheinung haben wir nun binnen weniger Jahre aus einer nicht großen Gemeinde (unter zweitausend Einwohner) zwei Selberlebensbeschreibungen – mit großen Unterschieden und kleinen Gemeinsamkeiten. Wir können beispielsweise bei Ott nachlesen, wie er den örtlichen Pfarrer empfand, und wir lesen bei Huber, für welche Baumaßnahmen Martin Übelhör zuständig war.

Huber ist ein religiöser Mensch, mit jener Sicherheit des Fühlens und Urteilens, die häufig solchen Menschen eignet. Wenn es um Religiöses geht, legt Huber auch mal Bekenntnisse ab, etwa zur vorehelichen Keuschheit künftiger Ehepaare. Huber formuliert auch hier zurückhaltend, ohne Schaum vor dem Mund. So fällt es dem Verfasser dieser Zeilen leichter, über ihm weniger Zusagendes hinwegzusehen (etwa über einige Sätze zum Dritten Reich). An manchen Stellen des Buches wünscht sich der Verfasser dieser Besprechung, dass der Leser, den Text „gegen den Strich“ („kritisch“) liest.
Aber der Gesamteindruck wird durch diese Anmerkung nicht getrübt: Ein Mann ohne Abitur, mit dem Herz auf dem rechten Fleck,! hat einen sehr respektablen Beitrag zur Heimat- und Landwirtschaftsgeschichte, in mancher Hinsicht auch zur Mentalitätsgeschichte der letzten Jahrzehnte im deutschen Süden geleistet. Hut ab, erst recht wenn man bedenkt, dass dieser Mann nur die Uni namens „Leben“ besuchte, dass Schreiben für ihn ein Leben| lang nur eine Freizeitangelegenheit war, abendliche Selbstvergewisserung nach einem harten Arbeitstag.

PS: Unsere Bitte um ein Foto lehnte der uneitle Mann ab; dabei hatten wir es so geschickt getroffen, als wir ihn am frühen Fronleichnamstagmorgen beim Blumenteppich-Anlegen antrafen. Das Buch kann in Ehingen an der Kasse des Museums zu dessen Öffnungszeiten erworben werden (10 Euro).