08.05.2003 | Warum und wozu Jakob Locher?

Der Ehinger SZ-Mitarbeiter vf bedauerte in einem Kommentar zu dem Vortrag vergangene Woche über Jakob Locher den schlechten Besuch dieses Vortrags. Ein Mitarbeiter hielt ihm entgegen: „Locher- das ist doch töter als tot! Warum sich dafür interessieren?”- Nun hat vf einige Gedanken notiert, warum man sich für Jakob Locher interessieren darf (vielleicht gar: soll), jedenfalls als Ehinger.

Ja, da ist zunächst mal der Lokalpatriotismus. Man muss diese Eigenschaft ja nicht unbedingt teilen. Aber anderswo, bei anderen Themen und anderen Städten, regt sich über jede Menge Lokalpatriotismus niemand öffentlich auf. Wurden die Bürger der Stadt Leimen für gaga erklärt, weil sie in großer Zahl einem Mann, der nichts anderes tat, als Bälle durch die Gegend schlagen, Massenempfänge bereiteten?? Nein! Was die Leimener taten, wird von sehr vielen Deutschen für o.k. empfunden. Und auch viele Ehinger fänden es toll, wenn aus ihrer Stadt ein Mann käme, der so schön wie der Leimener Bälle durch die Gegend schlägt. Und es gibt sicher eine ganze Reihe Ehinger, die den Blaubeurenern einen von dort stammenden Mann neiden, der – iwo, einen Menschen gesund pflegte, einen, der eine neue Medizin gegen eine Krankheit entdeckte oder eine stabile Brücke plante oder gut bewohnbare Häuser für Menschen baute, nein, einen Mann, der nichts anderes tut als schnell über gebahnte Wege zu laufen. Nach ihm wurde bereits zu seinen Lebzeiten, unter einhelliger Zustimmung des örtlichen Stadtrats, eine Sporthalle benannt. Kein einziger anderer Blaubeurer wurde dieser Würde für wert erachtet. – Warum sollte da nicht einmal alle zehn Jahre in Ehingen ein aus Ehingen stammender Mann mit einem Vortragsabend gewürdigt werden, ein Mann, der am Beginn des Theaterspiels heute üblicher Art in Deutschland stand?

Vielleicht nicht Hinz und Kunz, aber Leute, die mit Physik was am Hut haben, halten einen Herrn Newton für einen Heroen, wert, dass man sich seiner erinnert, obwohl ein heutiges Physik-Buch weit mehr Erkenntnisse aufweist als jener Herr zu seiner Zeit zustande brachte (freilich: Ohne seine Arbeit wären die heutigen Physik-Bücher vermutlich nicht ganz so inhaltreich). Nun, die meisten geistigen Taten, betreffen sie nun physikalische Gesetze, dichterische Texte oder Kompositionen, werden mal überholt. Frühere geistige Leistungen leben teilweise in späteren weiter. Auch Jakob Locher hat vielleicht ein wenig bewirkt, wovon wir Heutige noch profitieren. Es war sicher zu seiner Zeit kein unwichtiges Bemühen, den Einfluss der Theologie zurückzudrängen. Wohl kein einziges Werk Voltaires bringt uns heute noch neue Erkenntnisse, aber der Entwicklung zu mehr geistiger Freiheit haben wir jenem Franzosen noch immer einiges zu verdanken, obwohl die wenigstens von uns Zeitgenossen eine Ahnung von diesem Effekt haben, geschweige je eine Zeile jenes Franzosengelesen haben. Mit der Physikverhält es sich ähnlich: Wir genießen die aus ihr entsprungenen Annehmlichkeiten, jene, die dafür schwitzten, sind uns oft so gleichgültig wie kalter Kaffee.

Nicht, dass der Verfasser dieser Zeilen meint, viele Menschen in Ehingen müssten sich für so einen tollen Skribenten von anno tobak interessieren, aber unter den Besuchern des Abends waren (außer dem Stadtarchivar) nicht mehr als zwei Zuhörer mit einem germanistischen oder Geschichtsstudium. Ein gar nicht aus Ehingen (sondern aus dem Allgäu) stammender, aber in Ehingen tätiger Schulmeister hat im 19. Jahrhundert die erste große Forschungsarbeit über Jakob Locher verfasst. Heutigentags wäre es nicht schlecht, wenn’ – vielleicht ebenfalls ein Lehrer oder sonst ein Gebildeter – einiges von Jakob Locher übersetzte und der Stadt zur Veröffentlichung anträgt, damit ein wichtiges Hindernis für eine nähere Bekanntschaft mit Jakob Locher abgeräumt wird: Das Hindernis besteht darin, dass Lochers Werke nur auf Latein erhalten sind (wie das zu seiner Zeit für die meisten bedeutenden Texte galt). – Dann möchte man sich noch wünschen: Einen kundigen Erläuterer, der auch gerade das notiert, was uns von Lochers Gedankenwelt trennt, was aber doch Teil unserer eigenen, uns unbekannt gewordenen Geschichte ist. Es schadet niemand, wenn er feststellt, dass Leute, die eigentlich keine Deppen waren, vor einigen Jahrhunderten ganz andere Probleme hatten als wir heute. Das täte der Dämpfung des angeborenen Hochmuts vieler ganz gut.