06.08.2002 | Künstlern beim Arbeiten über die Schulter sehen

EHINGEN (vf) – Am Donnerstagabend soll das Künstler-Arbeitstreffen am und im ehemaligen Franziskaner-Kloster eine Schlusskundgebung, eine „Finissage“, erhalten schon vor dem offiziellen Ende, weil die spanischen Künstler am Freitag heimreisen; die anderen Künstler kann man bis Sonntag arbeiten sehen.

 – Kunsttreff-Organisator Horst Reichte bearbeitet derzeit einen Kalksteinblock vor dem Gebäude – mit örtlichem Bezug: Er meißelt aus dem mächtigen, quaderförmigen Block Motive heraus, die sich auf ein Buch des Spätmittelafters beziehen. «In Buch, das von einem Ehinger Humanisten ins Lateinische übersetzt wurde. Die Rede ist vom .Narrenschiff“ des aus Straßburg stammenden Baseler Rechtsprofessors Sebastian 8rant; durch die Übersetzung des .Musenfreunds“ Jakob Locher aus Ehingen in die damalige abendländische Bildungssprache (das, was heute das Englische ist), wurde die „Stultifera Navis“ zu einem Renner in der damaligen Literaturwelt.

Horst Reichte hat nun auf seinem Kalkblock auf einer Seite stark abstrahierend das Narrenschiff verewigt, auf der anderen einen Raben mit Narrenkappe; der Rabe im .Narrenschiff“ verspreche eine Änderung schlechten Verhaltens immer er für den nächsten Tag, nie sofort, so Reichte; er sei somit ein Sinnbild für Narretei (anderswo kann der Rabe auch ab Vogel der Klugheit gelten). – Reichles Verbildlichung des Narrenschiffs enthält zwei Elemente: Die eine Hälfte des von oben gesehenen, länglichen Schiffsrumpfs ist ein Gerippe (will sagen: der Narr wird mit Sicherheit sterben, er drückt sich aber vor dieser fatalen Erkenntnis und lebt in den Tag hinein, statt sich brav zum lieben Gott zu bekehren und brav seine Sünden zu bekennen; die andere Hälfte des Schiffs zeigt (nach Hinweisung durch den Künstler mit einiger Bemühtheit vom Betrachter erkennbar) zwei Brüste; sie sollen Sinnlichkeit, Begehrlichkeit andeuten.

 Für mittelalterliche, christliche Moralprediger wie Sebastian Brant und ihre Nachfolger in den folgenden Jahrhunderten (voran unseren oberschwäbischen Sonder-Heiligen Abraham a Santa Clara) ist, wer der „bösen Lust“ frönt, besonders narret und so möglichst rasch damit aufhören.

Was passiert mit dem bisher auf zwei Seiten behauenen, zwei Tonnen schweren Kalkstein? – Das stand am Sonntag noch nicht fest. Horst Reichte wusste es selbst auch nicht. Vf meint: Vielleicht erwärmen sich einige Ehinger kunstbegeisterte Narren für das Kunstwerk und pflanzen es vor dem relativ neuen Ehinger Narrenstadel auf. Wer über das Freigelände vor dem einstigen Spital (den einstigen „Spittelgarten“) geht oder das Haus betritt, kann den Künstlern bei der Arbeit zusehen. Die freuen sich über Aufmerksamkeit. Auch in den Fluren des Hauses wird gearbeitet, und im Keller wird gar geschweißt.

Dieses Künstler-Treffen zwecks gemeinsamer Arbeit in Ehingen ist nicht das erste seiner Art. Die ersten fünf fanden im Kloster Seeon/Chiemsee statt, ab 1983. Horst Reichte, ein gebürtiger Biberacher und damals unter anderem Lehrer der Salzburger Kunst-Sommerakademie, lud in das Salzburg-nahe Seeon ein. Es folgten weitere solche Arbeitstreffen, unter anderem in Spielfeld/Steiermark, in Ochsenhausen, an der slowenischen Grenze, in Spanien, einmal (vor zwei Jahren) gar in Kuba und auch in Oberschwaben (in Kürnbach und Ochsenhausen).

Dass die Künstler um Horst Reichle (ein „harter Kern“ und jedes Jahr einige andere) diesmal nach Ehingen kommen, geht auf eine Initiative von Kulturamtsleiter Karl Otto Schöfferle zurück, der Reichte vor anderthalb Jahren ein solches Treffen in Ehingen empfahl. – H. Reichte hat zwei Wohn- und Arbeitsorte. München und einen alten Bauernhof nahe Oberessendorf im südlichen Kreis Biberach. Reichte arbeitet grafisch, malerisch und als Bildhauer. Er hat zahlreiche Illustrationen zu Liedern der beiden .unfrisierten“ Dichter Francois Villon (Frankreich, 15. Jahrhundert) und Bellmann (Schweden, 18. Jahrhundert) gefertigt. Im Gespräch mit dem Ehinger SZ-Mitarbeiter vf zeigte sich Reichte sehr angetan von der Situation, in der die Künstler aus mehreren Nationen in Ehingen arbeiten können. Die Arbeiten, die derzeit im Ehinger Kulturzentrum entstehen, sind recht verschiedengestaltig. Ungegenständliche Arbeiten zwei- und dreidimensionaler Art sind ebenso darunter wie Gegenständliches, darunter expressive Arbeiten eines spanischen Künstlers (im SW der Neuen Wilden); dem Verfasser dieses Berichts gefiel besonders ein witziges BW eines Friseurs und seines Kunden und einige Bilder, die die Impulsivität von Jazz nachempfinden lassen • soweit das mit Mitteln der darstellenden Kunst möglich ist. •

Traditionalem Kunstgeschmack nahe ist auch d-c Arbeit von Shannon Wendel. einem LTS-Amerikaner, der seit einigen Jahren in der Steiermark lebt. Er hat aus einem mächtigen Pappelstamm einen Frauenkopf herausgearbeitet. Die Pappel hat für den Mann mit loschen Vorfahren eine eigene Bedeutung: Die Pappel gilt in Irland als Baum des Feuers und des Monats August. Wir fragten den Künstler, ob der halbplastische Kopf im Holz jemanden abbilde, meint Wardell: Nein, aber er ähnele sicher meiner Frau. – Wardell ist ein Multitalent: Et malt und dichtet und trug bei einem Kunst-Festle am Donnerstagabend auch eine selbstverfasste Geschichte vor. Zur Finissage am Donnerstag ab 20 Uhr gehört die Vorstellung einer Dokumentation über die zweiwöchige Kunst-Produktion in Ehingen, Musik von Roland Ernst und weiteren Instrumentalisten, Gespräche mit den Künstlern über ihn? Arbeiten in Ehingen und mehr.

H. Reichte erläutert eines der Motive seines „Narrenschiff-Steines. Bildliche Elemente auf dem 2-Tonnen-Kalkblock sind dem von J. Locher ins Lateinische übersetzten Brant‘schen „Narrenschiff“ nachempfunden. Erkennbar ist auf der rechten Seite ein Gerippe, das die Todesverleugnung des Narren versinnbildlichen soll. – Shannon Wardell arbeitet gerade einen Frauenkopf aus einem mächtigen Pappel-Stamm heraus. – Der Kopf ähnele sicher seiner Frau, meinte er. Die Haltung, in der Wardell gerade arbeitet, kann als verehrungsvoll empfunden werden.   Fotos: vf

Zwei Zeiten, zwei Stile. – Horst Reichte hat auf seinem in Ehingen entstandenen Narrenschiff-Relief auch einen Raben mit Narrenkappe verewigt. Die vermutlich einzige bildliche Darstellung von Raben aus der ersten Veröffentlichung des Narrenschiffs“, aus dem Jahr 1494 sei hier beigefügt. Drei Raben sitzen auf einem durch seine Schellenkappe kenntlichen Narren, dazu die Verse, in der modernisierten Textfassung von Elvira Pradel (Leipzig/Frankfurt 1980): „Wer singt ,cras. cras‘ (lateinisch für „morgen“) gleich wie ein Rab / der bleibt ein Narr bis an sein Grab / morgen hat er ein noch größer Kapp.“