12.06.2002 | Einige Wahlen im Kaiserreich ähneln denen in Diktaturen

EHINGEN (vf) – Dr. Andreas Gawatz sprach auf Einladung der Museumsgesellschaft am Freitag im Museum über Wahlen im Deutschen Kaiserreich, insbesondere im Raum Ehingen.- Der Ehinger Gymnasiallehrer ist durch eine große, vergangenes Jahr erschienene Arbeit über dieses Thema (allgemein, nicht unter lokalem Aspekt) als Kenner ausgewiesen. Seinen Vortrag zur regionalen Kaiserreichsgeschichte am Freitag wird er –  in ähnlicher Form – zu veröffentlichen versuchen.

Obwohl das Oberamt Ehingen nur ein vergleichsweise kleines Gebiet war, gewann Gawatz doch einige interessante Erkenntnisse. Eine Grundlage für diese Erkenntnisse war die damalige Tageszeitung im Oberamt aus dem Ehinger Verlagshaus Feger, der „Volksfreund für Oberschwaben“, den Gawatz immer wieder zitierte.

Warum dieses Thema?

Gawatz eröffnete seinen Vortrag mit einer Darlegung von Eckpunkten der wissenschaftlichen Diskussion über den politischen Charakter des Kaiserreichs und so auch mit einer Begründung, warum es auch heute interessant ist, sich mit diesem Thema zu befassen. Mit Begründungen versehene Behauptungen über zentrale politische Eigenheiten des Kaiserreichs sind auch für uns Heutige nicht ohne Belang. Sie sind Elemente einer Antwort auf die Frage nach Gründen für die deutsche „Unglücksgeschichte“: Wurde die gesamtstaatlich organisierte Bösartigkeit des Dritten Reichs schon früher vorbereitet? – Vor dem Hintergrund der späteren Entwicklung fragen Forscher beispielsweise: Wie demokratisch oder undemokratisch war das Kaiserreich? Hat die unterstellte geringe Demokratie-Fähigkeit etwas mit dem Marsch in den Ersten Weltkrieg zu tun und gar darüber hinaus mit dem Marsch in eine der fatalsten Zeiten der deutschen Geschichte, ins Dritte Reich mit seiner Massenvernichtungsarbeit?

Gawatz zählte auf, was für die Beschreibung „u n entwickelte Demokratie im Kaiserreich“ spricht, aber auch das, was für Demokratisierungsfortschritte gegenüber früheren Regierungsformen in Deutschland und zeitgleichen Regierungen in Europa spricht.

Demokratische Elemente im Kaiserstaat sind ungeliebt

Eine seiner Beobachtungen betraf grundlegende Einschätzungen, die wahlberechtigte Männer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Raum Ehingen zur Politik, insbesondere zur Wahlsituation, hatten. Im beginnenden Kaiserreich kritisierten Wortführer in unserem Raum eher die staatliche Obrigkeit, die als Behinderer bei Wahlen empfunden wurde; später empfanden die politisch einflussreichsten Wählergruppen und ihre Sprecher vor allem die politischen Konkurrenten, andere Parteien, als hinderlich. Gawatz zitierte verschiedene Äußerungen, in denen konkurrierende Parteien übel abqualifiziert werden (die „Volksfreund“- Redaktion stand auf Seiten der konservativen Mehrheit). Eigenartig berührt vor allem, dass das Konkurrieren von politischen Gruppen um Wählerstimmen mit Bildern aus dem Krieg umschrieben wird. Ein Grundkonsens der Demokraten, dass jeder Demokrat besser ist als ein Nicht-Demokrat, scheint nicht vorhanden.

Unerwünscht sind rote / liberale (,Jüdische‘) Konkurrenzparteien

Hassobjekte der konservativen und einflussreichen Menschen im Raum Ehingen waren in den letzten Jahrzehnten des Kaiserreichs einerseits die „gottlosen“ Sozialdemokraten und andererseits (hier wird’s antisemitisch) liberale Parteien, die identifiziert werden mit „schrankenloser jüdischer Konkurrenz“, mit „unbeschränktem Freihandel und schwärmerischer Judenliebe“. – Der Streit um den Freihandel hat eine heutige Parallele in der Frage „Globalisierung ja oder nein“.

Eine andere Erkenntnis von Gawatz: Zunächst neigte die überwiegende Zahl der Wähler im Raum Ehingen trotz des überwiegenden Katholizismus nicht ausgesprochen katholischen und adeligen Kandidaten zu (wie in den umgebenden katholischen Wahlkreisen), sondern die Wahlentscheidungen liefen eher auf überkommenen Schienen von unterschiedlicher „Liberalität“ und ‘ nationalstaatlicher Orientierung. Der Raum. Ehingen, so Gawatz, war in den 1870er und 1880er Jahren „konservativ und preußisch national eingestellt – verwunderlich für einen katholischen Bezirk“. Ein solcher Preußisch-Nationaler war beispielsweise der Landtags- und Reichstagsabgeordnete Karl Joseph Schmid aus Munderkingen.

Am besten, wenn es nur einen einzigen Kandidaten gibt

Gawatz schilderte, wie im Raum Ehingen damals Kandidaten für die Parlamente aufgestellt wurden – sehr anders als heute bei uns; Konkurrenz von Kandidaten verschiedener Parteien und Auswahl unter ihnen galt als unfein. Am besten sollte es überhaupt nur einen einzigen Kandidaten geben; Gawatz nannte die Kandidatur K. J. Schmids und was mit ihr zusammenhing, „Honoratiorenpolitik und Beispiel für vormoderne Wahlen“. Eine Haltung, die es auch heute noch, aber nicht mehr so verbreitet gibt, zeigte sich damals deutlich: die Angst vor politischem „Zwist und Niedertracht“ (so ein Zitat aus dem Volksfreund 1882). Man hoffte, dass durch die Aufstellung eines einzigen Kandidaten dem Wahlkreis ein Wahlkampf „erspart“ bleibe.

Hier zeigt sich eine konfliktunfreundliche Grundhaltung der Deutschen, die in den 20er Jahren von den Nationalsozialisten gegen die erste deutsche Demokratie ausgenutzt wurde: Hitler und seine Bewunderer setzten der „Schwatzbude“ Parlament die energische Führergestalt entgegen, die schon alles regelt. Der Kandidat Minister Schmid beispielsweise erhielt (laut Zeitungsbericht) die „Zustimmung der bischöflichen Kurie und der ganzen Geistlichkeit des Bezirks“. Ein Gegenkandidat wurde nicht aufgestellt, Schmid erhielt in einer Wahl 99 Prozent (!) der gültigen 4385 Stimmen – ein Prozentsatz, den man in der Politikwissenschaft heute mit diktatorischen Regimes wie dem Dritten Reich und der Sowjetunion gleichsetzt.