06.05.2002 | Rottenacker und das kommunistische Manifest

(vf) – Der Alb-Donau-Kreis hat einen Band mit historischen Aufsätzen herausgebracht. Die Ehinger SZ stellte einen dieser Aufsätze zu den Stichworten „Zwiefalten / Mochental / Säkularisation in Württemberg“ am 26. April vor. Im Folgenden weisen wir auf einen weiteren Aufsatz der Neuerscheinung hin, der mit einer besonderen Gruppe Menschen in Rottenacker und darüber hinaus in dem ungefähren Zeitraum 1790 – 1850 zu tun hat: Menschen, die kurz als „Separatisten“, als Abweichler, bezeichnet wurden und sich um eine charismatisch wirkende Frau, Barbara („Babele“) Grubermann, gesammelt hatten. Seit einigen Jahren gibt es in Rottenacker die Fastnachtsgruppe der „Babelesbuben“. Aber nicht nur sie erinnern auf eine verquere Art an jene Vorfahren; auch einer der Väter der weltweiten kommunistischen Bewegungen, Friedrich Engels, bezog sich in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf diese Separatisten-Gruppe.

Der Aufsatz aus der Feder des Altshauser Historikers Dr. Eberhard Fritz folgt den Spuren der Rottenacker I Separatisten bis in die USA; Fritz legt in seinem hier vorliegenden Aufsatz auch den Stand der Forschung mit zugehöriger Literatur in den USA, Deutschland und der Schweiz dar. Vor neun Jahren wies als erster seit langem der Reutlinger Schriftsteller und Historiker Hellmuth Haasis auf die Rottenacker Separatisten hin. Der einstige 68er und Verehrer jakobinischer Traditionen tat es mit einer Veröffentlichung in dem Verlag „Der Freiheitsbaum“, Verlagsort „Paris / Strasbourg“: Der Schalk saß ihm im Nacken bei dieser Ortsangabe; richtiger wäre gewesen: „Betzingen bei Reutlingen“ – aber das hätte nicht so gut geklungen. – Haasis veröffentlichte 1993 als erster ein von ihm in württembergischen Verhörprotokollen entdecktes Lied der Rottenacker Separatisten und deutete es (Das Büchlein ist nach wie vor im Ehinger SZ-Büro am Marktplatz käuflich zu erwerben). Lieder waren damals wichtig für die Verbreitung religiöser und politischer Gedanken unter vergleichsweise armen Menschen, die zu ihrer Zeit kaum über gedruckte Texte (oder gar, wie heute: das Internet) verfügten. Lieder spielten sicher auch eine Rolle, wenn jemand seine eigene Weltsicht stärken wollte.

Archivar E. Fritz ist inzwischen der beste Kenner des Themas „württembergische Separatisten“. Er hat deren Spuren auch in den USA verfolgt und er hat eine ganze Reihe von Separatisten-Liedern aufgetan, ebenfalls in Gerichtsakten – eine bemerkenswerte literarische Quelle, die etwas über den „Geist der Zeit“ aussagt. In der hier benannten Neuerscheinung liegen diese Lieder nun erstmals in Deutschland gedruckt vor.

E. Fritz folgt den Spuren der Separatisten auch im damals zeitweilig bayerischen Ulm. Dort erging es den Abweichlern nicht besser als im herzoglichen und königlichen Württemberg. Mitglieder der zahlenmäßig nicht großen Gruppe wurden aus der Stadt gewiesen oder sogar mehrere Monate ins Gefängnis gesteckt (damals sicher kein Zuckerschlecken), bloß, weil sie sich sternförmige Plaketten angeheftet hatten. Solche Sterne sahen nach Orden aus, und diese zu tragen war ein Vorrecht Adeliger. Die Separatisten kritisierten auf diese einfache Art die von oben erwünschten Standesunterschiede unter den Menschen.

Die Gedanken- und Gefühlswelt der Separatisten ist eine eigentümliche Mischung von gesellschafts- und kirchenkritischen Vorstellungen und enthält Ansichten über Sexualität, wie sie heute nicht mehr so üblich sind wie damals. In einem der Lieder wird die manchmal verquere Gefühls- und Denkwelt, einfacher, armer Leute sichtbar: Einerseits beneideten sie die höheren Schichten um deren größere sexuelle Freizügigkeit, andererseits waren sie von ihrer christlichen Erziehung her auf Sexualfeindschaft getrimmt. Einige der von E. Fritz veröffentlichten Liedverse wirken auf den Verfasser dieser Besprechung unfreiwillig komisch; die Verse wecken den Eindruck, dass diese Menschen sicher nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit strebten, aber auch die • (Straußen-)Eierschalen ihrer Herkunft an sich trugen. Eberhard Fritz tut seinem Studienobjekt die Ehre an, diese kuriose Seite der separatistischen Gedankenwelt nicht zu betonen, sondern auf die’ fast weltgeschichtliche Bedeutung dieser Personengruppe abzuheben.

Diese Menschen wurden damals in Rottenacker und anderswo streng verfolgt (Haft etc.). Als sie sich zur Auswanderung bereit erklärten, wurden sie aus der Haft entlassen. Sie hatten dann gerade vier bis sechs Wochen Zeit, die Auswanderung zu organisieren. Das heißt: einen Großteil ihrer geringen Habe zu verscherbeln, um Geld für die Auswanderung zusammenzukriegen und dann – fast im Wortsinn: ab in die Pampa. –

In den USA gelang den Babeles Buben unter schwierigsten Bedingungen die Gründung und jahrzehntelang sehr erfolgreiche Fortführung der „kommunistischen“ Siedlung „Zoar“ (nach einer Bezeichnung aus dem Alten Testament). Der englische Reisende John Finch stellte damals die ungewöhnlichen Experimente eines neuen Lebens- und Wirtschaftsstils in den Gemeinden der aus Europa kommenden USA-Einwanderer in einem Buch vor. Der spätere „Kommunist“ Friedrich Engels übersetzte diesen Bericht 1845 ins Deutsche und veröffentlichte darüber einen größeren Aufsatz. Engels wurde, so E. Fritz, durch die Nachrichten Finchs „wesentlich zum ‘Kommunistischen Manifest’ angeregt“, „Als Zweifel darüber aufkamen, ob seine kommunistischen Ideale auch realisierbar seien, führte er diese Siedlungen als Beweis an“. Eberhard Fritz: „Auf diese Weise entfalteten die im schwäbischen Pietismus wurzelnden religiösen Überzeugungen eine Wirkung, die weit über die Kirche oder die separatistischen Gemeinschaften hinaus reichte.“