04.01.2001 | Unbekannter schmückt Gräber russischer Kriegsgefangener und schreibt Verse

EHINGEN (bur) – Ein Unbekannter schmückte in den letzten Tagen auf dem Ehinger Friedhof das Gräberfeld, in dem verstorbene russische Soldaten des Zweiten Weltkriegs bestattet sind, mit bunten Sternen und Holzkreuzchen, an denen Tannenzapfen angeklebt sind. Dem eigenwilligen Schmuck war ein gereimter Bericht über einen Toten-Transport beigefügt; man kann annehmen, dass der Verfasser als junger Soldat in Ehingen das Hinaustransportieren eines russischen Kriegsgefangenen auf den Friedhof und das Verscharren miterlebte. Wir geben das „Gedicht” in Auszügen wieder:

„Seit 1942 ruhst Du hier, mein lehmig-brauner Kamerad!
Du wurdest aus dem Osten zu uns geschickt, als junger Soldat.
Im gleichen Jahr marschierte ich als Feldgrauer auf Deinem Pfad,
nur in umgekehrter Richtung, wie das Gesetz es befahl.

Wir sind uns in. Deinem kurzen Leben nie begegnet,
unbekannt geblieben und nie miteinander geredet,
jeder war der Meinung, er habe seine Pflicht getan,
keiner durchblickte, was geschah durch Größenwahn!

Nur, Deinen Leichenzug hab’ ich durch Zufall gesehen,
als wir, mein Freund und ich, kamen vom Spazierengehen!
Abends trat aus Eurem Lager durch ein unbenutztes Tor
still und heimlich ein ganz kleiner Trupp hervor.

Um das heikle Geschehen fertig zu bringen,
sollte es möglichst ohne Zuschauer gelingen!
Die Spitze bildete ein unauffälliger Mann,
dem war die Örtlichkeit wohl gut bekannt.

Er vergewisserte sich mit Aug’ und Ohr,
dass keiner von ihnen die Fassung verlor!
Es folgte ein Karren, von Russen geschoben,
beide erschüttert, die Köpfe geneigt zu Boden!

Dem Ganzen schritt ein feldgrauer Wachmann hinterher,
lässig geschultert trug er ein Infanteriegewehr!
Bei „Miehles” ging der Trupp auf die Durchgangsstraße,
es herrschte kein Verkehr, Glück in hohem Maße!

Nach der Kreuzung war der Führer zufrieden sehr,
der ganze Weg war praktisch menschenleer!
Der toten Friedhofsmauer entlang ging’s bis zu ihrem Ende,
dann machten sie Halt und nach rechts eine Wende,
jetzt kam der unvergessene Augenblick,
als wir erreichten das gleiche Wegestück.

Sichtbar war das Erschrecken auf der anderen Seite:
„Das darf nicht wahr sein, am Ende noch eine Pleite!”
Inzwischen haben wir, mein Freund und ich, die Lage erkannt,
dass es etwas so Schreckliches gab, war uns nicht bekannt!
Auf der Straße zu gehen, war für jedermann frei,
eng war sie, und man kam ohne Halt nicht vorbei.
Uns hat es die Sprache verschlagen,
dem Anführer gelang es wenigstens,
den Abendgruß zu sagen!

Kein Sarg, ein verschnürtes Bündel, ganz unbedeckt
war es auf der Pritsche des Karrens hingelegt.
Eingewickelt wie Lazarus auf dem bekannten Bibel-Bild,
aber nicht mit feinem Leinen und kostbaren Spezereien umhüllt,
sondern mit Packpapierbahnen laufend umgeben nur
und verknotet mit billiger, gelber Sisalschnur.
In diesem Gebinde kann kein normaler Mensch sein,
das kann höchstens ein Rest sein von Haut und Gebein!
Eine solche Quittung in Deinen jungen Jahren
kann nur der Hungermörder ausgestellt haben.
Nach Entlassung aus meiner Gefangenschaft
fand ich Eure „Friedhofsgemeinde” sehr vergrößert,
aber gepflegt, nicht behandelt wie Feinde.
Die Markierungssteine sind geordnet, nicht wie damals anonym,
und die Namen fein säuberlich auf dem Obelisk eingraviert.
Eingegrenzt sind auch die damals offenen Räume,
blühende Hecken umgeben sie als lebende Zäune!
Daheim in Deiner Mutters Nähe würdest Du mit Blumen bedacht,
ich habe mich an ihrer Stelle bemüht um wenigstens ein bisschen Ersatz.

Mein Wunsch gilt nicht nur Dir vor allem,
sondern auch Deinen Kameraden und Brüdern gar allen.
Unser Herrgott gebe, uns seinen Segen,
damit wir unsere Freundschaft pflegen
und friedlich in aller Welt in Liebe zusammenleben.

Bild: Bunte Sterne und aus dünnen Ästen gebastelte Holzkreuzchen, an denen Tannenzapfen angeklebt wurden: So schmückte der Unbekannte die Gräber russischer Kriegsgefangener auf dem Ehinger Friedhof (Foto: bur)

Des Weiteren schildert der Unbekannte, wie es ihm selbst in der Kriegsgefangenschaft erging. Auch er litt Hunger. Der Unbekannte gibt seiner pazifistischen Gesinnung Ausdruck und prangert die Kriegsführer wegen ihrer Unmenschlichkeit an. Die Ehinger SZ berichtete vor Jahren über das Kriegsgefangenen Lazarett im ehemaligen Konvikt. Zahlreiche Insassen starben an Unterernährung. Die russischen Kriegsgefangenen wurden weit schlechter behandelt als die Gefangenen aus anderen Ländern. Die Toten wurden auf einem Gräberfeld des Friedhofs bestattet.